Benjamin Calau, der in Friedrichstadt in Schlesien aufgewachsen war und sich zeitweilig in St. Petersburg und Riga aufhielt, experimentierte in den 1760er Jahren mit Wachs als Bindemittel, um die enkaustische Malerei der Antike wiederzubeleben. Zu seinen bevorzugten Motiven gehörten Charakterköpfe wie der vorliegende, die in der Tradition der niederländischen ‚Tronjes‘ standen.
Das Bild eines Lesenden ist dabei oft zugleich eine Studie über das Sehen, was im vorliegenden Fall durch die Brille betont. Indem die Augen des Lesenden dem Betrachter nicht sichtbar sind, zeigt sich hier das Lesen als ein Akt der Innerlichkeit.
Calau beschränkte sich bei seinem Gemälde auf Erdfarben und ließ das Bild teilweise durch das Radieren der Farbschicht entstehen. Das rückseitige Profilbildnis eines langhaarigen und –bärtigen Mannes (eines Philosophen) ist aus einem schwarzen Fond herausradiert. Dessen Beschriftung „Linearis circum scriptio“ ist bislang noch nicht entschlüsselt.
Um 1770 schuf Calau für Gleim eine Reihe von Porträts, darunter diejenigen Lessings (Stiftung Weimarer Klassik), Gleims selbst (Fürst zu Stolberg-Wernigerode) und seiner Nichte Sophie Dorothea Gleim (Gleimhaus), einige davon in Wachs. Außerdem war Calau in Gleims Gemäldesammlung mit Charakterköpfen vertreten. Das kleine Bild, das 2018 mit Unterstützung der Fielmann AG erworben werden konnte, trägt dazu bei, Gleims Gemäldesammlung exemplarisch zu rekonstruieren.
Der Rahmen dürfte original sein. Hier wird die Schildpatteinlage vieler Rahmen des 16. und 17. Jahrhunderts mit Wachs imitiert.
Bezeichnet unten links: pinxit cera B. Calau 1768